

Kaffeepause. Extreme Aufsicht und steile Diagonale gehören zu den Kompositionsmerkmalen des Neuen Sehens, das als fotografische Praxis in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre seinen Höhepunkt hatte.
Die kleine Auszeit wirkt improvisiert, spontan, und ein bißchen so, als seien Tische und Stühle gerade erst ins Freie geschleppt worden: Jacken und Taschen wurden "mal eben" abgeworfen; der hintere Tisch weist mehr Gedecke als Sitzende auf; wahrscheinlich haben die beiden jungen Mädchen, die es sich bäuchlings auf zwei Liegen bequem gemacht haben, gerade noch den Älteren Gesellschaft geleistet, bis es ihnen zu langweilig wurde. Der Ort der Aufnahme konnte bisher nicht identifiziert werden. Auf den Varianten mit den Negativnummern 4051 und 4053 sieht man, dass weitere Liegen direkt am Rand einer ungemähten Wiese stehen, die sich an einen Wald schließt.


Die Wartenden. Eine Gruppe von Ausflüglern hat sich in an den Strand begeben. Auffällig ist ihre für diesen Anlass eher untaugliche Sonntagskleidung: die Damen tragen Pumps und Handtäschchen, eine hat sogar einen Fuchs um die Schultern geworden. Wenn sie nicht achtgeben, weht ihnen der Seewind die Hüte vom Kopf. Etwas steifbeinig blicken sie zum Horizont, in dessen Richtung einer der Herren mit ausgestrecktem Arm zeigt. Was sehen sie, und was geht in ihnen vor? Die Versammlung von Rückansichten erinnert merkwürdig an das etwa zur gleichen Zeit entstandene Gemälde "Erwartung" (1935/36) des deutschen Surrealisten Richard Oelze, das oft als "Ruhe vor dem Sturm" oder Vorahnung der katastrophalen Entwicklung des "Dritten Reichs" interpretiert wurde; vor diesem Hintergrund scheint Hülsmanns wahrscheinlich ganz zufällige Fotografie aufgeladen mit beklemmendem Anspielungsreichtum.


Ein kräftiger Bauer sitzt breitbeinig auf einem Schemel in seinem Stall und flickt Netze, die zum Schutz des Saatguts ausgespannt werden. Die Struktur von Netzen, meist als Fischernetze, faszinierte professionelle und Amateurfotografen – nicht zuletzt wegen der oft ausgesprochen feinen Schattenwirkungen, die die Gewirke auf eine darunterliegende Fläche ausüben. In Albert Renger-Patzschs Buch „die Welt ist schön“ (München 1928) sind zwei Netze in unterschiedlichen Situationen abgebildet (S. 32 und S. 97), und auch Friedrich Hülsmann fotografierte gleich mehrfach Landarbeiter, die sich an Netzen zu schaffen machen. Indem er verschiedenste landwirtschaftliche Tätigkeiten ins Bild nahm, stellte er eine visuelle Enzyklopädie bäuerlicher Aufgaben am Umschlagpunkt zur maschinisierten und industrialisierten Erzeugung von Lebensmitteln dar.


Liebe zu dritt? Friedrich Hülsmann hielt das Anlegen des Bootes Germania in etlichen Einzelaufnahmen fest. Nun hat sich zu den beiden Faulenzern eine kräftige junge Frau gesellt, deren blonde Locken vom Wind verweht werden. Gemeinsame sportliche Betätigungen beider Geschlechter in überaus leichter Bekleidung (oder gar nackt), wären wenige Jahrzehnte zuvor noch undenkbar gewesen. Doch die Lebensreform um 1900 hatte erste Versuche unternommen, mit der muffigen Prüderie des 19. Jahrhunderts aufzuräumen: Sonnenbaden und Freikörperkultur wurden zu neuen Idealen einer gesunden, körperbewussten Bevölkerung, die sich allerdings nur zögerlich durchsetzen konnten. Erst die 1920er jahre popularisierten mit etlichen Romanen und Filmen rund um das Thema Sport das zwanglose Beisammensein von Männern und Frauen; das NS Regime schließlich hatte zur Sexualität ohnehin eine eher lockere Beziehung: Joseph Goebbels etwa gab zu bedenken, das deutsche Reich sei kein Franziskanerkloster! Außerdem waren künftige deutsche Soldaten selbst dann willkommen, wenn sie unehelich gezeugt wurden. In welcher Beziehung zueinander die drei jungen Menschen tatsächlich stehen, bleibt unserer Phantasie überlassen.


Friedrich Hülsmann porträtiert seine Frau Gertrud im Profil (ca. 1934), an der Reling eines Schiffes sitzend; die vielen Sommersprossen in ihrem Gesicht lassen die Vermutung zu, daß der Hochsommer vielleicht schon vorbei ist, zumal sie ein leichtes Wollensemble aus schmalem Rock und eienr kragenlosen Jacke über einer blumengemusterten Schluppenbluse trägt. Ein lederner Überzieher legt neben ihr auf der Sitzbank. Mit ihrem im Nacken kurz geschnittenen Haar sieht Gertrud Hülsmann aus wie „frisch vom Friseur“. Während viele Gleichaltrige zu dieser Zeit schon wie vorzeitig verblühte Matronen wirkten, macht sie – hier knapp über 40 – einen jugendlich-schlanken Eindruck. Gertrud Hülsmann hält am Erscheinungsbild der selbstbewussten „Neuen Frau“ der 1920er Jahre fest, das die Nationalsozialisten bereits mit dem Image der „Deutschen Mutter“ zu überformen trachteten.


Gertrud Hülsmann mit einer Bekannten im Dänemarkurlaub 1936. Die beiden Frauen erklimmen eine Leiter am Strand, die vielelicht zu einer Aussichtsplattform führt. An diesem sonnigen, etwas windigen Tag entstanden etliche Aufnahmen – Friedrich Hülsmann muß sich in einer wahren Fotoekstase befunden haben, und man hört geradezu das fröhliche Rufen und Lachen der Freundinnen.


komplementäre Aufnahme zum Profilporträt an der Reling. Frau Hülsmann hat den Kopf nun leicht in die entgegengesetzte Richtung gewendet, der Wind hat ihr Haar zerzaust und auch die lose Kragenschleife ihrer Bluse ist zur Seite geweht.


Zwei Besucher einer landwirtschaftlichen Messe in Berlin, wahrscheinlich Mai 1933. Friedrich Hülsmann hat sich - vermutlich völlig unbemerkt – auf die Fersen von zwei Männern geheftet, die sich über das Messegelände treiben lassen und offenbar hier und da Informationen einsammeln. Vom Stand der Hansa Mühle, dessen Aufbau Hülsmann in vielen Fotografien dokumentiert, haben sie Umhängetaschen aus bedrucktem Stoff mitgenommen. Der aufgedruckte Werbeslogan "füttert Soja Schrot Vita" bildet annähernd die Mitte der Aufnahme und den Focus der Scharfstellung. Mit ihren Hüten und den mäßig sitzenden Straßenanzügen wirken die beiden Männer ähnlich unkomfortabel und wesensfremd gekleidet wie die drei Westerwälder Jungbauern im Sonntagsstaat, die August Sander 1914 fotografiert und 1929 in sein Buch "Antlitz der Zeit" aufgenommen hatte. Dass Hülsmann die beiden im Moment ihrer Isolation von den übrigen Messebesucher ablichtete, verstärkt den Eindruck der Verlorenheit: vielleicht werden die Männer froh sein, der Großstadt bald wieder den Rücken kehren zu können…


An einem herrlichen Sommertag im Dänemarkurlaub des Jahres 1936 entstanden gleich mehrere Aufnahmen, die Gertrud Hülsmann in Aktion zeigen – sie spielt Akkordeon oder sie tollt am Strand herum. Auf einer Düne springt und tanzt sie ausgelassen, während ihr Mann sie aus leichter Untersicht fotografiert. In den 1920er Jahren gab Frau Hülsmann in der Hamburger Gruppe des Choreographen Rudolf von Laban ihrer Bewegungsfreude Ausdruck, und dort lernte sie 1926 ihren Mann kennen. Angeregt durch die Ideen der "Lebensreform" hatte Laban tanzpädagogische Konzepte entwickelt, die auch Laien bei der Aufführung von „Bewegungschören“ und "kosmisch-eurhythmischen" Festspielen einbezog. Laban gilt als Mitbegründer des modernen, nicht-klassischen Tanzes, engagierte sich allerdings auch bei der Vorbereitung der Olympischen Spiele, die 1936 von den Nationalsozialisten in Berlin ausgerichtet wurden – um bereits ein Jahr später ins Exil zu flüchten.


1932 unternahm Friedrich Hülsmann ohne seine Frau eine Reise nach Italien, die ihn u.a. an den Comer See und in die Stadt Bergamo. Dort fotografiert er die um 1350 errichtete nördliche Vorhalle der ursprünglich romanischen Basilika Santa Maria Maggiore. Dieses dem Domplatz zugewandte Hauptportal weist eigentümlichen Figurenschmuck auf: die den Eingang flankierenden Säulen ruhen auf Löwen, was die Überwindung des Bösen symbolisieren soll. Oberhalb des Rundbogenportals bietet eine Loggia Raum für drei Statuen, die die Heiligen Barnabas, Alexander und Vincenz darstellen. In der von Hülsmann gewählten Schrägansicht wirken diese Figuren wie Teile einer gigantischen Spieluhr, die man – z.B. durch Münzeinwurf – in Bewegung versetzen kann. Zwei mit den Löwen am Eingang hantierende Kinder verleihen der Szene ebenfalls etwas eher heiter-burleskes. Die eigentliche, von einer Kuppel bekrönte Querhausfassade mit Fensterrose und aufwändigem Fassadenschmuck wird in dieser Aufnahme beinahe zur Nebensache. Die Ende September 1932 entstandene Fotografie gehört vermutlich zu den ersten, die Hülsmann mit der im Lauf diesen Jahres gekauften Kamera macht.


Gertrud Hülsmann und ein Freund ihres Mannes waten selbstvergessen in hochgeschürzter Kleidung durch einen Flusslauf, wahrscheinlich im Alten Land. Die Aufnahme berührt durch die geschwisterliche Vertrautheit der beiden Dargestellten und die sommerliche Entspanntheit der unaufgeregten Landschaft. Die Sonne zeichnet feine Lichtspiele auf der Wasseroberfläche.


Vier Kinder, drei Buben und ein Mädchen, wahrscheinlich aus dem Alten Land, sind beim Spielen völlig außer sich geraten: zwei Knaben in kurzen Hosen wälzen sich in ekstatischem Gelächter am Boden, das Mädchen mit verrutschter Schürze verbirgt sein Gesicht am Rücken des Jungen, dessen verdrehte Hände irgendwohin zu weisen scheinen; lediglich der dritte Junge kauert ernst in einer Mauerecke, als ginge ihn das Toben seiner Freunde nichts an, oder als habe ihn eine Vision jenseits des gemeinsamen Spiels erfasst. Die wahrscheinlich Ende der 1920er Jahre geborenen Kinder haben schwere Zeiten vor sich: Hitlerjugend, Reichsarbeitsdienst und vielleicht sogar ein viel zu früher Einsatz in den Verteidigungsschlachten der letzten Kriegstage. Ob der Junge in Sandalen von all dem schon etwas ahnt, während sich seine Kameraden grenzenloser Heiterkeit hingeben?


Sog. "Goldene Galerie" im "Neuen Flügel" des Schlosses Charlottenburg, nach dem Regierungsantritt Friedrichs II. (1740) als Ergänzung des alten Barockbaus errichtet. Hülsmann fotografiert in diesem von Knobelsdorff entworfenen Bau mit aufwändigen Goldstukkaturen: Rocaillen und chinoise Ornamente wuchern zwischen den Fenstern zur Decke empor, von der prächtige Kristalleuchter herabhängen. Hülsmann findet noch die historische Aufstellung von Büsten antiker Philosophen und Staatsmännern vor.


Selbstporträt aus einer ganzen Reihe von fotografischen Studien rund um das eigene Erscheinungsbild: Friedrich Hülsmann probiert vor der Kamera verschiedene Gesichtsausdrücke - und verschiedene Krawatten; als Hintergrund dient eine hell lackierte Tür.


Der Maler von Rosenborg. Ein Ausflug in die dänische Hauptstadt Kopenhagen führt Friedrich Hülsmann auch zum Schloß Rosenborg, bis 1710 Residenz der dänischen Könige und seit den 1830er Jahren Museum, in dem u.a. die Kronjuwelen ausgestellt sind. Für die Aufnahme steht Hülsmann im Rosengarten (Rosenhaven), der durch einen kleinen Wassergraben vom Schloß getrennt ist. Die komplexe Fotografie enthält mehrere Fixsterne der Aufmerksamkeit, die zu genauerer Betrachtung einladen: aus der mittleren Bildachse nach rechts gerückt sitzt ein älterer Herr auf einem Schemel, um letzte Pinselstriche an einem Gemälde anzulegen, das er vom Schloss gefertigt hat. Ein aufgespannter Schirm schützt ihn vor der Mittagshelle, und in konzentrierter Haltung widmet er sich der Vollendung seines Werks. Dabei wird er von einem jungen Mann im gestreiften Anzug beobachtet, dessen Kontur vom Sonnenlicht wie von einer Aureole geformt scheint. Es sieht aus, als beobachtete er den Maler schon seit längerem. Als weitere Beobachterin steht weiter links eine junge Frau im hellen Mantel, deren Gesicht wir im Vollprofil sehen. Sie führt etwas zum Mund, das auf den ersten Blick wie eine e-Cigarette aussieht, sich aber bei näherem Hinsehen als Eis am Stiel entpuppt – diese sommerliche Schleckerei, eigentlich gefrorener Fruchtsaft, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfunden worden. Am linken Rand marschiert ein Herr in Knickerbockern aus dem Bild – während die beiden anderen in Betrachtung versunken still stehen, verursacht sein linker Fuß eine Bewegungsunschärfe, die einzige in diesem sonst statischen Bild.