Ausgerechnet Eisenlager? Zweifellos gibt es zahllose pittoreskere Ansichten der wunderschönen, altehrwürdigen Hansestadt Lübeck. Warum Hülsmann die Wallhalbinsel als Standort wählt, um von dort die Häuserreihe an der Untertrave mit den dahinterliegenden Kirchtürmen von St. Marien und St. Petri zu fotografieren, wird wohl ein Rätsel bleiben. Statt der herrlichen Bürgerhäuser mit ihren typischen Treppengiebeln dominiert Paul G. Pätaus Eisenlager die vordere Bildmitte. Musste Hülsmann seinen Film "vollkriegen"?
Auf seinen Ausflügen fotografiert Friedrich Hülsmann gerne sogenannte Nasenschilder oder Ausleger: diese historische Form der Werbung für ein Unternehmen (z.B. Handwerksbetriebe oder Gasthäuser) wird rechtwinklig an der Hauswand angebracht. Die kunstvollen Ornamente, die oft einen symbolischen Hinweis auf die Betreiber des Geschäfts (etwa ihren Namen oder ihr Warenangebot) enthalten wurden meist aus Eisen geschmiedet und oft partiell farbig emailliert. Auf einer Reise nach Dinkelsbühl entdeckt Hülsmann das Schild des Brauereiausschanks von Karl Mühlbacher, das in einem Kranz einen aufsteigenden Greif zeigt. die Wirtshauszier inspirierte seinerzeit auch weitere Amateurfotograf:innen.
Friedrich Hülsmann porträtiert seine Frau Gertrud im Profil (ca. 1934), an der Reling eines Schiffes sitzend; die vielen Sommersprossen in ihrem Gesicht lassen die Vermutung zu, daß der Hochsommer vielleicht schon vorbei ist, zumal sie ein leichtes Wollensemble aus schmalem Rock und eienr kragenlosen Jacke über einer blumengemusterten Schluppenbluse trägt. Ein lederner Überzieher legt neben ihr auf der Sitzbank. Mit ihrem im Nacken kurz geschnittenen Haar sieht Gertrud Hülsmann aus wie „frisch vom Friseur“. Während viele Gleichaltrige zu dieser Zeit schon wie vorzeitig verblühte Matronen wirkten, macht sie – hier knapp über 40 – einen jugendlich-schlanken Eindruck. Gertrud Hülsmann hält am Erscheinungsbild der selbstbewussten „Neuen Frau“ der 1920er Jahre fest, das die Nationalsozialisten bereits mit dem Image der „Deutschen Mutter“ zu überformen trachteten.
Der Gasthof "Goldner Hirsch" am Weinmarkt 6 in Dinkelsbühl existiert heute noch. Friedrich Hülsmann erwischt eine Szene, die wie ein Filmstill wirkt: einer der Gäste unterhält sich gerade mit der Kellnerin, die neckisch den Kopf zur Seite hält, um "interessiert" zu lauschen. Machte das Lokal damals noch mit "fließend Wasser" auf den besonderen Service aufmerksam, werden heute "Wirtshausstube mit urigem Charme und fränkischer Küche sowie Übernachtungsmöglichkeiten" gepriesen. Dinkelsbühl gehört zu den deutschen Altstädten, die auch im 21. Jahrhundert mit historischem Ambiente und "Gemütlichkeit" punkten können.
Für eine der "Rhein-Mainischen Braunen Messen" konzipierte Friedrich Hülsmann den Reklamestand der Hansa Mühle. Passend zum übermütigen Slogan "immer obenauf" ragt der Werberuf für lecithinhaltige Kraftnahrung weit in die Höhe der Frankfurter Messehalle – ein originelles Alleinstellungsmerkmal, denn alle anderen Anbieter bleiben innerhalb des durch die Messekojen vorgegebenen Rahmens. Die von der umlaufenden Empore aus aufgenommene Fotografie betont in der perspektivischen Verkürzung der Tafel die dynamische Diagonale des Schriftzugs. Zu den Traditionsausstellern wie Teppichhaus Hermann Eberhard (nachweisbar 1932-1953), Dinges Brotfabrik Offenbach (nachweisbar seit 1904), Henkel/Persil (nachweisbar seit 1907) gehört auch das Bielefelder Unternehmen Dr. Oetker, das in einer "Pudding-Stube" sein berühmtestes Produkt anbietet, das es seit 1894 herstellt.
Kinder am Strand, ca. 1935. Das Mädchen, das Hülsmann auch beim Baden fotografierte, und zwei Knaben im Bildhintergrund bauen Sandburgen – während die Jungs bereits Wälle errichtet haben, scheint das Mädchen mit heftiger Gebärde ein störendes Insekt abzuwehren – dabei entsteht eine sehr graziöse Pose, die Friedrich Hülsmann mit seinem Gespür für den richtigen Augenblick festhält.
In der Erfurter Waagegasse fotografiert Friedrich Hülsmann einen kleinen Jungen mit zerbeulter, hochgerutschter Trägerhose. Er hält beide Hände vor die Stirn und wendet den Kopf etwas ab, der Mund ist geöffnet. Blendet ihn die Sonne? Der kurze Schatten lässt vermuten, dass sie hoch steht, die Aufnahme ist also vermutlich um die Mittagszeit entstanden. Wahrscheinlich ist deshalb auch so wenig los in der verwinkelten Waagegasse. Mit ihren Speichergebäuden aus dem 16. und 17. Jahrhundert gehört sie heute zu den noch erhaltenen historischen Sehenswürdigkeiten der Stadt.
Warum wirkt der Junge so verzweifelt? Hat er eine Beule am Kopf oder ist er einfach nur müde? Haben die anderen Kinder nicht mit ihm spielen wollen? Hat seine Mutter ihn stehen lassen? Verlor er seinen liebsten Teddybär? Wollte ihm niemand ein Eis kaufen?
Ein weiteres Beispiel für das Geschick Friedrich Hülsmanns, Kinder zu fotografieren, ohne dass sie es zu bemerken scheinen.
Im Wind wehende Vereinsflaggen. Zu den zahlreichen Aufnahmen, die Friedrich Hülsmann in Häfen oder an Bord von Schiffen machte, gehört dieses Bild zweier Fahnen von Seesportvereinen, die malerisch sturmgepeitscht an ihrem Mast zerren. Dynamisch verwehte Textilien stellen eine wichtige "Pathosformel" dar, wie der Kulturhistoriker Aby Warburg sie Ende der 1920er Jahre anhand zahlreicher Kunstwerke der Renaissance untersuchte, und die er mit zeitgenössischen Artefakten, etwa Werbung, abglich. Warburg stellte die Beispiele seiner Studien im sogenannten "Bilderatlas Mnemosyne" zusammen, den er nicht mehr vollenden konnte und der erst viele Jahrzehnte nach seinem Tod herausgegeben wurde. Zwischen den Bildzeugnissen der Bewegungsspuren, die jeweils dramatische Gefühlsaufwallungen visualisieren sollten, hätten sich auch Hülsmanns Flaggen gut gemacht.
Die Apfelernte wird verladen (ca. 1935). Das "alte Land" westlich von Hamburg ist bis heute für seinen Obstanbau bekannt. Friedrich Hülsmann fotografierte mehrmals während der Ernte, die üblicherweise im Spätsommer/Frühherbst stattfindet. Die Atmosphäre dieser Aufnahme ist geprägt vom warmem Licht der bereits niedrig stehenden Nachmittagssonne; im Mittelpunkt der fotografischen Aufmerksamkeit steht die Rückenansicht eines Mannes mit weißer Schürze, die sein breites Kreuz betont. Kleidung und gepflegter Haarschnitt lassen vermuten, dass der Mann eher zur Gruppe der Endabnehmer gehört als zu den Erntehelfern, die er breitbeinig beobachtet. Die süße Fracht wurde in einer Vielzahl von Körben mit einem Lastkahn herangefahren und auf einem Steg am Ufer abgestellt. Von dort erfolgt der Weitertransport mit Pferdefuhrwerken. Hierbei sind weitere junge Männer und Burschen behilflich, von denen mindestens einer die Uniform der Hitlerjugend trägt: diese versammelte und indoktrinierte während des "Dritten Reichs" Heranwachsende bis zum Alter von 18 Jahren. Seit 1935 bestand überdies eine Verpflichtung, am Reichsarbeitsdienst teilzunehmen – möglicherweise der organisatorische Rahmen für das Engagement für Aktivitäten in der Landwirtschaft. Eine eigentümliche Figur gibt der Junge im Straßenanzug ab, der sich auf dem Steg an einen der Obstkorbstapel lehnt. Er schaut mit etwas törichtem Gesichtsausdruck zum Fotografen, den er offenbar als einziger entdeckt hat...
Schatten
Wie ein Schatten zu Stande kommt ist leicht zu erklären: "Schatten entsteht, wenn eine Lichtquelle seine abgestrahlten Photonen (zwischen seine Lichtstrahlen) nicht durchgehend auf eine Projektionsfläche werfen kann." Kurz gesagt: Da, wo die Lichtquelle nicht hingelangt, entsteht Schatten.
Neben der physischen Erklärung der Schattenbildung gibt es auch die Möglichkeit, einen Schatten aus einer symbolischen Bedeutung zu betrachten: So könnte der Schatten als Zwilling gesehen werden. Er bildet genau das ab, was schon einmal existiert. Ein Schatten bewegt sich genau zeitgleich und identisch mit dem Gegenstand. Dennoch ist es nicht die gleiche Sache. Der Schatten zeigt nur die Fläche und ist somit nicht jedes Detail.
Der Schatten ist ein Begleiter. Er ist immer da, egal wie stark eine Lichtquelle ist. Dennoch muss Licht gegeben sein, damit der Gegenstand erkannt wird.
Der Schatten kann Freund und Feind zu gleich sein.
Wenn man sich zum hellen, wegweisenden Licht richtet, liegt der Schatten hinter einem. Man kann ihn nicht sehen, er ist dunkel und geheimnisvoll.
Nicht ohne Grund heißt es „über seinen Schatten springen“. Der Schatten stellt etwas Böses da, etwas, das man zu überwinden vermag.
Schatten weist uns den Weg zum Ursprung des Lichtes.
Text: Franziska Heuer
Unbekannte/r Fotograf/in, Friedrich Hülsmann in seinem Büro der Hansa Mühle AG, ca. 1934. Hülsmann sitzt mit Laborkittel und Krawatte an seinem Schreibtisch und blättert in Notizen. Konzentriert und leicht vornübergebeugt gibt er sich unbeobachtet, als bemerke er nicht, fotografiert zu werden. Ein Wandkalender, dessen Datum leider nicht zu entziffern ist, wird flankiert von einer Empfehlung des Hauses, mit Hansa-Lecithin zu entspannen und – einer gerahmten Fotografie! Es handelt sich um das Motiv der Schiffschraube (Negativ Nr. 1042), das Hülsmann vergrößert, dunkel passepartouriert und gerahmt hat. Im Negativbestand ist dies das einzige fotografische Dokument dafür, dass Hülsmann ein eigenes Bild als Positiv produzierte. Umso bemerkenswerter, dass es sich dabei nicht um eine der zahlreichen Idyllen aus dem Alten Land oder ein Porträt von Ehefrau Gertrud handelte, sondern um ein nautisches Detail, das der fotografischen Bildsprache der Neuen Sachlichkeit und dem Empfinden einer „Schönheit der Technik“ verpflichtet ist.
unbekannte/r Fotograf/in, Friedrich und Gertrud Hülsmann während eines Ostseeurlaubs, ca. 1934. Im Negativkonvolut trägt die Aufnahme die prominente Ordnungsnummer „1“. Es handelt sich um eine der wenigen, auf denen beide Hülsmanns zu sehen sind; wahrscheinlich baten sie eine/n Freund/in oder eine Urlaubsbekanntschaft um dieses Porträt. Die Eheleute sind im Profil zu sehen, Gertrud sitzt auf dem Geländer einer Mole und schaut etwas nachdenklich drein, ihr Mann hat seine rechte Hand in diskreter Zärtlichkeit an ihre Hüfte gelegt. Offenbar freut er sich sehr über die Anwesenheit seiner Frau, um die er lange werben musste: die zehn Jahre ältere hatte zunächst gezögert, eine ernsthafte Beziehung mit ihm einzugehen, zumal seine beruflichen Aussichten etwas vage waren – sie selbst hatte auch noch die finanzielle Verantwortung für ihre früh verwitwete Mutter und jüngere Geschwister. Nach der 1929 geschlossenen Ehe blieben die Beiden 50 Jahre lang glücklich...
Urlaubsbegegnung am Pier, wahrscheinlich deutsche Ostsee, ca 1936. Friedrich Hülsmann war ein geschickter und aufmerksamer Beobachter seiner Mitmenschen. Da er in die Rolleiflex, die meist um den Hals hängend getragen wurde, von oben hineinblickte, dürften Viele gar nicht bemerkt haben, daß sie fotografiert wurden. So schaut auch der junge Tourist mit Hornbrille und verwegener Haartolle über den Mann mit der Kamera hinweg. Von einem Steg aus richtet er den Blick in die Ferne; dabei entgeht ihm wohl, daß ihn eine junge Urlauberin von der Seite anschmachtet. Interessiert betrachtet sie den wohlgeformten nackten Oberkörper, während sich ihre Schwester, die ihr wie ein Zwilling gleicht, auf das Meer oder den Strand schaut.
Fotografische Selbstbildnisse gibt es, seit das Medium in den 1830er Jahren erfunden wurde. Eines der ältesten überlieferten Beispiele realisierte 1839 der Klempner Robert Cornelius, der seinen Apparat ausprobieren wollte und sich, die lange Belichtungszeit ausnutzend, nach dem Öffnen des Objektivs rasch vor die Kamera setzte. Bereits ein Jahr später inszenierte sich Hippolyte Bayard als Ertrunkener und eröffnete damit einen nicht mehr abreißenden Strom von fotografischen Experimenten mit dem eigenen Erscheinungsbild. In der Theorie mag die Frage, ob heutige „Selfies“ auch Selbstporträts sind, noch untentschieden sein. Die Gebrauchsweisen der Fotografie jedenfalls, etwa sich über die Kamera Aufschluss über das eigene Antlitz zu verschaffen und in bildnerischen Versuchen die Persönlichkeit zu formen, existieren seit über 180 Jahren. Ob Hülsmann sich selbst für ein neues Passbild Modell saß oder ausprobieren wollte, welche Krawatte ihm besser steht – mehrere Aufnahmen entstanden offensichtlich kurz nacheinander – spielt keine Rolle; als Ausdrucks- und Belichtungsstudien dokumentieren sie das Interesse des Fotografen an den Möglichkeiten seines Apparats und an der Entwicklung seiner Identität.
Ein Mann hat es sich auf einer Bank im Halbschatten gemütlich gemacht und liest, eine bereits ziemlich abgebrannte Zigarre zwischen den Fingern, in einer zusammengefalteten Zeitung. Hülsmann scheint diese Aufnahme gelungen zu sein, ohne dass der Lesende von ihm Notiz nahm.